Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Ein Ausflug, den ich nach Vaucluse unternahm und wo ich eine Fieberentzündung bekam, hat mich daran gehindert, die Ehre zu haben, Ihnen zu schreiben. Ich glaubte, mich [bereits ]an den Ufern des Styx zu befinden. Man kann sagen, dass jene Quelle eine grauenvolle Schönheit ist. Man zeigt einem dort einen so genannten Palast, wo Petrarca für seine schöne Laura dichtete. Aber es ist nur eine falsche Überlieferung, da man deutlich sieht, dass dieses alte Gemäuer zu einer Burg gehörte, die einstmals einen Engpass verteidigte, der sich am unteren Ende des Felsens befindet. Man muss sich bis zur Quelle tragen lassen, da es nur einen kleinen Pfad gibt, um dort hinzukommen. Es ist dort übermäßig kalt, sobald man nahe dem Becken ist, dass ich, obwohl das Wetter äußerst mild gewesen ist, durchgefroren war und sogleich einen Schüttelfrost bekam, den ich noch später verspürte. Niemand wird jemals hinter das Phänomen dieser Quelle kommen. Man hat 150 Ellen Schnur dort hingeführt, an welchen man eine Kanonenkugel befestigte, ohne die Tiefe des Abgrunds erreichen zu können. Alle Felsen, die sie umgeben und denen sie entspringt, müssten hohl sein. Wir hatten bereits Kenntnis von den Gerüchten, welche rund um den Abfall von unserem Glauben kreisen. Sie sind voller Gnade für uns, mein teuerster Bruder, dass Sie daran gedacht zu haben, sie zu beschwichtigen. Der Markgraf wird sie gänzlich zerstört haben, indem er während seines Aufenthaltes in Bayreuth alle Sonntage in der Kirche gewesen ist, was in die Zeitungen gesetzt worden ist. Dies sind Verleumdungen, erfunden von unseren guten Freunden von gewissen Höfen, welche sich keine Gelegenheit entgehen lassen, unserer ganzen Familie einen Dienst zu erweisen. Sobald ich in Marseille sein werde, werde ich Ihren Wünschen gemäß dem Herrn Calvin mein Salamaleikum entbieten. Das Wetter ist von Neuem so abscheulich, dass wir nicht abreisen können, da wir die Rhône nicht überwinden können. Wir hätten sehr viel besser daran getan, den Winter in Italien zu verbringen, wo man nicht verpflichtet ist, groß aufzutreten; wo das Klima viel milder ist; und wo man sich besser die Zeit vertrieben hätte, und sofern man die Leute nicht kränken will, ist man verpflichtet, sie zu sehen. Unser Haus leert sich nicht und wider Willen muss man Tafel halten. Der Durchgang der spanischen Armee und die schrecklichen Abgaben verteuern den Preis der Lebensmittel übermäßig. Ebenso geht es mit den Unterkünften und den Waren. Und zu all dem haben wir wenige Annehmlichkeiten und sind sehr in Verlegenheit. Ich empfing gestern zu meiner großen Überraschung eine Gesandtschaft des Prinzen Ludwig von Württemberg, welcher mir einen französischen Oberst namens Maudave schickte, mit einem Brief voller Klagelieder über die Gerüchte, welche neuerlich in Umlauf sind, dass er den Dienst Frankreichs verlasse. Es ist sicher, dass man ihm in dieser Sache Unrecht tut. Er bittet mich, ihn mit dem Herzog auszusöhnen und teilt mir mit, dass er den Abenteurer verjagt hat, der bei ihm war. Dieser Oberst, der gescheit und ein Mensch von Verstand zu sein scheint, hat mir versichert, dass er [Prinz Ludwig Eugen ]sein Betragen gänzlich geändert habe. Der Abenteurer, den er gerade entlassen hat, und ein gewisser Donnep, der sein Favorit war, haben ihm tausend dumme Streiche gespielt. Letzterer ist ein erbärmlicher Mensch, den man in [Schloss ]Pierre Scize eingesperrt hat, als Spion von … Sie werden [es ]leicht erraten, mein teurer Bruder. Er wollte überdies einen Aufstand in den Cevennen anstiften. Man sagt, dass es ihm schlecht ergehen wird. Der Maréchal de Belle-Isle und Turpin sind beide verzweifelt über den Tod ihrer Frauen. Ich würde nicht darauf wetten, dass Turpin sich nicht wieder zum Trappisten-Mönch machen ließe. Um es 2 Tage später wieder zu bereuen, wie er es bereits gemacht hat. Ich höre nichts mehr von Voltaire. Ich entnehme Ihrem Brief, mein teurer Bruder, dass die Gräfin Bentinck Berlin verlassen hat. Der Verlust ist nicht groß, das ist eine boshafte Frau weniger. Und wenn sich die Frauen dazu anschicken, es zu sein, sind sie schlimmer als die Männer. Und man muss noch schlimmer sein als der Teufel, um Sie zu hassen. Es ist eine Sünde, die ich ihr niemals verzeihen werde, die aber lasterhaften Leuten anhängt, welche tugendhafte Leute verabscheuen. Dafür haben Sie tausende von Herzen zu Ihren Diensten; niemals ist ein Fürst überall auf der Welt geliebt und angebetet worden wie Sie, und vor allem von den Franzosen. Ich kann sagen, dass die Empfindungen, welche sie für [Sie ]haben, sie mir lieb und teuer machen. Da sie bis zu einem solchen Übermaß gehen, glaube ich, dass Sie großartige Dinge bewerkstelligen könnten, wenn Sie es wollten. Es gibt kein tiefer empfundenes Vergnügen, als das, was man liebt, geliebt zu sehen. Ich erfreue mich daran, aber ich habe ein anderes, ganz ebenso lebhaftes, das darin besteht, überzeugt zu sein, dass niemand Sie [so ]liebt und Ihnen mehr zugetan ist als ich, mein teuerster Bruder, da mein Herz ganz Ihnen gehört, und da nur das Dahinscheiden der Zuneigung und der tiefen Hochachtung ein Ende setzen könnte, mit welcher ich bin,

Mein teuerster Bruder,
Ihre sehr ergebene, gehorsame Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Avignon, den 18. März 1755.)