Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

[… ]Ich bin die ganze Zeit [damit ]beschäftigt, mich umzuschauen und vom alten Rom und seinen Bewohnern unterhalten zu lassen. Das moderne Rom ist sehr verschieden vom alten Rom in Bezug auf die Bevölkerung. Die Heiligen leben hier in ständigem Krieg; die Kardinäle sind untereinander, wie einstmals die Tribunen und der Senat. Können Sie glauben, mein teurer Bruder, dass unsere Ankunft hier die ganze Stadt in Bewegung gesetzt hat? Man reißt sich darum, mir eine Zusammenkunft mit dem Papst zu verschaffen, ein jeder will diese Ehre haben. Ein jeder lässt mich warnen, vor seinem Amtsbruder auf der Hut zu sein; wodurch ich die hiesigen Parteiungen und Intrigen erkennen lerne, und ich ergötze mich daran. Ich soll mich mit Seiner Heiligkeit in einem Garten treffen. Alles hängt noch am Kniefall, den ich gerade heraus erklärt habe, nicht zu machen. Im Übrigen sind die Kardinäle und die Botschafter mir gegenüber unendlich aufmerksam. Sie sind alle gekommen, um mich zu besuchen. Der Kardinal Albani hat Geist und Einfallsreichtum. Er ist der größte Antiquar, den es hier gibt. Ich wünschte, mein teuerster Bruder, Ihnen die Gemälde, die ich hier sehe, schicken zu können, um Ihre neue Galerie zu zieren. Hätten Sie verständige Personen hier, die Kenner wären, wären sehr schöne Antiken und Gemälde für ein Butterbrot zu haben. Man kann Stücke von Granit und von Porphyr, sogar Halbsäulen für einige Zecchinen bekommen. Diese prächtigen Marmore sind in den Straßen aufgetürmt, ohne dass man Aufhebens davon machen würde. Wenn der Transport nicht wäre, könnten wir [so viel ]davontragen, um [ganze ]Säle auszukleiden, ohne den Wert der Steine zu bezahlen. Seitdem ich in Italien bin, habe ich erst eine abscheuliche Oper in Genua gesehen. Man lobt und feiert Gesangsstimmen, die wir nicht [einmal ]als letzte Sänger nähmen. Die gute Musik, der Geschmack und der Stil sind gänzlich zerstört. Nur die Jagd- und Posthörner sind in Mode. Die Malerei hält sich noch. Ich sah Gemälde von Malern, die seit einem Jahrhundert modern sind. Unter ihnen [den Gemälden ]gibt es sehr schöne, unteranderen von Carlo Dolci, von Conca und von Carlo Maratta. Ich speiste gestern mit dem berühmten Wood, der in Palmyra gewesen ist. Er ist ein höflicher, aber trockener frostiger Mensch. Er erzählte mir sehr viele Besonderheiten von seiner Reise.

[Rom ]Den 20. [Mai 1755 ]Ich gestehe Ihnen, mein teurer Bruder, dass ich heute recht betrübt bin. Ich habe gerade einen treuen Freund verloren, der mich in meinen Mußestunden aufmunterte und mir mehr zugetan gewesen ist, als es die Menschen jemals sind. Mein armer Folichon Folichon (vermutlich ein Zwergspaniel) war Wilhelmines Lieblingshund. Sie ließ ihm im Park Eremitage in Bayreuth ein Grabmal in Form einer antiken Säulenstellung errichten. Im Gemälde von Antoine Pesne „Markgräfin Wilhelmine in Pilgertracht“, um 1750, SPSG, hält sie Folichon (den Närrischen) in ihrem rechten Arm. {Siehe auch im Deckengemälde des Bayreuther Hofmalers Wilhelm Ernst Wunder (1713–1787) im Alten Musikzimmer, Neues Schloss, Bayreuth: #184 Paradies, 1998, Bd. 1: 119, Abb. 20 und 120, Linke Seite: Abb. 19.} ist in Bayreuth an Altersschwäche gestorben. Ich hatte ihn dort gelassen, aus Furcht vor einem Unfall auf der Reise, welche er nicht mehr im Stande war, zu machen. Sie wissen, mein teuerster Bruder, wie viel Schmerz diese kleinen Sachen bereiten, [während ]der Großteil der Welt sich darüber lustig macht. Aber es scheint mir, dass man, sobald man die Menschen erkennen lernt, sich von ihnen lösen sollte, und wir sehr viel mehr Tugenden bei denen finden, die wir Tiere nennen, als bei den mit Vernunft begabten Wesen. Ich sehe jene Vernunft täglich unvernünftiges Zeug schwatzen und dem Bösen zugeneigt. [Es gibt ]keinen aufrichtigen und treuen Freund; der geringste Eigennutz lässt alle Erkenntlichkeit und alle Bande der Freundschaft vergessen. Oft wird derjenige, der am liebevollsten erscheint, ein unversöhnlicher Feind. Ich kann Ihnen nicht leugnen, dass das, was ich jeden Tag sehe, mir die Welt gänzlich zuwider werden lässt, und dass ich glaube, dass es keine glücklichen Menschen gibt, außer denen, welche nicht nachdenken und nicht prüfen. Den 23. [Mai 1755 ]Man kam, mein teurer Bruder, und hat mich in meinem Moralisieren unterbrochen. Und man tat wohl daran, denn es wäre nur dazu gut gewesen, Sie zu langweilen. Ich setze noch immer täglich meine Ausflüge fort. Ich sah heute etwas, das mich wegen der Ehre unserer Nation erfreute: Es sind die Gemälde eines Sachsen, namens Mengs, den der König von Polen in Dienst genommen hat. Mit 27 Jahren gleicht dieser Mann beinahe den Tizians und Guidos. Man macht hier großes Aufheben von ihm. Batoni ist auch ein großer Maler und nicht teuer; er steht weit über Pesne. Die Palazzi von Rom sind so prächtig wie Paläste von Königen. Ich finde ihre Disposition der Innenräume nicht so, wie man sie mir beschrieben hat. In allem herrscht eine Ausstrahlung von Größe und Adel. Die „Galleria Colonna“ ist wegen ihrer [architektonischen ]Ordnung die prächtigste der Welt. Die Architektur der „Galleria Colonna“ müsste Wilhelmine bekannt vorgekommen sein, denn die Bildergalerie im Berliner Schloss richtete sich nach diesem italienischen Vorbild. Man sagt, dass es in Versailles keine von solcher Schönheit gibt. Ich reise morgen nach Neapel ab und werde mich bei meiner Rückkehr wieder hier aufhalten, wo man ein Jahr leben und jeden Tag etwas Anderes sehen könnte. Ich empfehle mich weiterhin Ihrer kostbaren Erinnerung und bin mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

Mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste und gehorsamste Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Rom, den [18./19.-][? ]23. Mai1755

[postscriptum]
Ich bin in großer Versuchung, mein lieber Bruder, Ihnen zwei Bruchstücke von sehr großen ägyptischen Säulen aus rotem und grünem Granit zu schicken. Aber ich fürchte, dass deren Transport doch zu viel kosten würde. Sie werden mir eine Gnade erweisen, mir deswegen Ihre Anweisung zu geben. Sie haben davon keine in Ihrer Sammlung. Sie sind sehr schön, aber man wird sie bearbeiten lassen müssen.)