Perspectivia

([Potsdam, ]den 21.[ Februar 1756]

Meine teuerste Schwester
Ihr Brief, meine teuerste Schwester, hat die Ruhe meiner Seele vollends wiederhergestellt, welche gestört gewesen ist, wegen meiner Besorgnis um Ihre kostbare Gesundheit. Ich gestehe Ihnen, dass ich aus allen Wolken gefallen bin, eine Krone von Lorbeer aus Ihren Händen zu empfangen. Wenn es etwas gäbe, das in der Lage wäre, mein armseliges Gehirn zu verblüffen, so wären es die zuvorkommenden Dinge gewesen, die Sie dem hinzufügen. Aber ich habe recht schnell zu meiner Natur zurückgefunden, und bedacht, dass der Schatten Vergils alt genug ist, um unsinniges Zeug daherzureden, und dass man in der französischen Küche die Schinken ehrt, indem man Ihnen Lorbeer verleiht wie den Helden. Nur das Übermaß an Nachsicht, welches Sie für mich zu haben geruhen, konnte Sie derart für mich einnehmen. Aber, meine teure Schwester, wenn ich in mich gehe, finde ich dabei nur ein armes Individuum, zusammengesetzt aus einer Mischung aus Gut und Schlecht, oft sehr unzufrieden mit sich selbst, und es würde sehr wünschen, mehr Wert zu haben als es hat; gemacht, um als Privatmensch zu leben, verpflichtet, zu repräsentieren, Philosoph aus Neigung, Politiker aus Pflicht, jemand, der gezwungen ist, alles zu sein, was es nicht ist, und der kein anderes Verdienst hat, als eine gewissenhafte Verbundenheit für seine Pflichten. Voilà, meine teure Schwester, eine Generalbeichte, nach welcher ich auf ihre Absolution hoffe. Der Herzog von Nivernais kommt heute hierher; wenn ich den freundlichen Mann genießen könnte, wäre ich darüber entzückt; aber bisher habe ich nur den Botschafter gesehen.
Ich begnüge mich damit, Sie von ganzem Herzen zu umarmen und Ihnen meine vollkommene Zuneigung zu versichern, mit der ich bis zum letzten Atemzug meines Lebens bin, meine teuerste Schwester, […].)