Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Wir sind gestern am Abend endlich hier angekommen, nachdem wir unterwegs eine Hitze wie an den Hundstagen Hundstage, benannt nach dem Sternbild „Großer Hund“ (Canis Major), daher auch lat.: Dies caniculares. Sie erstrecken sich auf die heißen Tage vom 23. Juli bis 23. August. [CK] erduldet haben. Wir sind über Durlach gereist, wo ich in Karlsruhe kurz den Markgrafen und die Markgräfin gesehen habe. Sie sind beide sehr liebenswürdig und haben uns in keine Verlegenheit gebracht. Ich habe diesen Ort, den man so sehr gepriesen hat, nicht besonders gefunden. Man hat uns hier [in Straßburg ]päpstlich empfangen wollen. Wir haben alle Ehrenbezeigungen zurückgewiesen, und wider unsere inständigen Bitten nennt man uns bei unseren Titeln. Wir haben hier mit sehr viel Kummer vernommen, dass es gegenwärtig unmöglich ist, nach Montpellier zu fahren. Die Ständeversammlung soll im nächsten Monat dort abgehalten werden, was uns daran hindert, Unterkunft zu bekommen. Im «Ancien Régime» wurden in den «pays d’États» (königliche Provinzen) Ständeversammlungen der Provinz abgehalten. Die Versammlung in Montpellier, dem Verwaltungszentrum der historischen Provinz Langedoc, dauerte vom 28. November 1754 bis zum 8. Januar 1755. Sie wurde eröffnet durch den Marschall von Frankreich, Louis François Armand de Vignerot Du Plessis, Herzog von Richelieu (1696–1788). {Cfr.: #34 Histoire générale de Languedoc, 1872: 88.} Wir werden gezwungen sein, die Zeit während der Stände[versammlung ]in Avignon zu verbringen. Da wir hier anderer Verabredungen und anderer Wagen bedürfen, werden wir erst am 22. [Oktober 1754 ]aufbrechen können, um unsere Reise fortzusetzen. Ich habe diese Ruhepause sehr nötig, da ich müde und erschöpft bin. Ich befinde mich gleichwohl sehr viel besser seit einigen Tagen, was mich hoffen lässt, dass mir die Müdigkeit als eine Kur dienen wird. Das Erste, wonach ich mich bei der Ankunft erkundigen werde, ist, ob es nicht eine Post gibt, die abgeht, damit ich wenigstens den Trost habe, mein teuerster Bruder, Ihnen zu schreiben. Ich kann es kaum erwarten, in meinem neuen Zuhause zu sein, um Ihre teuren Nachrichten zu empfangen. Man drängt mich, den Brief zu beenden. Immer mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste und gehorsamste Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Straßburg, den 19. Oktober 1754.)