Perspectivia

([o. O. ][Potsdam ]den 10. Dezember 1754

Meine teuerste Schwester. Ich habe mit viel Freude die angenehme Beschreibung empfangen, die Sie, meine teure Schwester, von Ihrem Aufenthalt in Lyon machen. Ich bezweifle nicht, dass Sie dort alle Arten von Belustigungen finden, die Ihrer würdig sind, sowohl in Bezug auf die Antiken, Denkmäler, Gemälde und Ruinen, als auch in der Gesellschaft der Franzosen. Gegenwärtig haben die Künste in dieser Nation ihren Sitz errichtet. Wir haben vielleicht in Deutschland ebenso viele Gelehrte, wie es da unten gibt, doch ist es vor allem der feine und verfeinerte Geschmack, welcher die Literaten Frankreichs von denen unserer Heimat unterscheidet. {Friedrichs 25 Jahre darauf erscheinende Schrift, die sich diesem vermeintlichen Sachverhalt widmet und mit ihm auseinandersetzt #420 De la littérature allemande, 1780, und die unmittelbar darauffolgende deutsche Übersetzung: #421 Ueber die deutsche Litteratur, 1780, trifft zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine „deutsche Bildungsgesellschaft, die auf die eigene ,Literaturʼ stolz zu sein begonnen hatte“, zitiert nach: #422 Fulda, 2012: Abstract.} Die Resonanz gegenüber Friedrichs öffentlichkeitswirksam bezogener Position der Orientierung von Sprache und Kultur am frz. Vorbild äußerte sich, von einigen Zustimmungen abgesehen, zum Teil in heftigen Stellungnahmen, vgl.: {#5 friedrich.uni-trier.de, hier: Bd. 7, [Bibliographie] De la littérature allemande.} [GB/reh] Sie werden in allen Klöstern der Jesuiten gebildete und freundliche Leute finden, und man muss gestehen, dass jeder französische Jesuit, für sich genommen, einen schätzenswerten Mann ausmacht. Aber trotz dieses Vorzuges ist die Gesellschaft als Gesamtes genommen ein Gräuel. Ich rede nicht als Ketzer, sondern als «philosophe» Die deutsche Übersetzung „Philosoph“ gibt die Komplexität des französischen Begriffs «philosophe» nur unzureichend wieder. Im 18. Jahrhundert etablierte sich der Terminus technicus als Synonym für einen Denker im Sinne der Aufklärung, sei er Literat, Forscher oder Staatsmann. [CW], der die nachlässige Moral und die schrecklichen Grundsätze verabscheut, die all ihre Kasuisten unterrichten, und nach denen ihr Orden sich richtet. Doch muss ich Ihnen das nicht sagen, Sie haben zu gut in den Geschichtsbüchern gelesen, um sie nicht zu kennen. Dieser Orden ist so bekannt in Frankreich, wie er dort allgemein verhasst ist. Zumindest sollten sie es mir verzeihen, da sie erklärte Feinde aller Könige sind und aller rechtmäßigen Macht, die sich nicht ihrer Willkür beugen. Hier ist das allerschönste Wetter der Welt, ein wenig kälter als bei Ihnen. Es friert in den Nächten, aber man kann vier Stunden am Tag spazieren gehen, ohne sich über die Kälte zu beklagen. Ich weiß nicht, was mich dazu bringt, Sie mit dem Regen und dem schönen Wetter zu unterhalten. Seien Sie sicher, meine liebe Schwester, dass von allen Nachrichten, die Sie mir schreiben werden, Ihre Gesundheit die angenehmste sein wird. Ich bin mit der allervollkommensten Zuneigung,

meine teuerste Schwester,
Ihr getreuester Bruder und Diener

Friedrich.)