Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

[… ]Ich beschäftige mich damit, mich bezüglich der Altertümer auf den neuesten Stand zu bringen {Zum Aufbau von Wilhelmines Bibliothek vertiefend: #89 Harbeck-Barthel, 2009: 151–158, und weiterführend: #358 Schlüter, 2009: 159–172.} {Schon #363 Maas, 1979: 55–77, hier: 60–62, notierte in seinem Aufsatz, dass „viele Exemplare […] Lesespuren und Anstreichungen selten Randbemerkungen“ zeigen.}, soweit meine Gesundheit es erlaubt, die von neuem sehr angegriffen ist. Dieses Studium ist eine Leidenschaft, die mitreißt. Unglücklicherweise erfordert es sehr viel Erinnerungsvermögen, was nicht zu mir passt, da das meinige äußerst geschwächt ist. Ich glaube, dass es nur eine gewisse Menge Gedanken gibt, die in unserem Gehirn bestehen bleiben könnten. In dem gleichen Maße, wie man neue aufnimmt, verschwinden die anderen. Sie haben einen Vorteil, mein teurer Bruder, vor den anderen Menschen, denn Ihr Erinnerungsvermögen verdorrt niemals. Ich könnte nicht ohne Erstaunen an die Anzahl der Dinge denken, die Sie in Ihrem Kopf behalten, die man sich nicht vorstellen kann, es sei denn man hatte das Glück gehabt, Sie zu kennen. Es ist nicht der einzige Grund des Erstaunens, in das Sie mich alle Tage versetzen. Aber ich fürchte, Ihre Bescheidenheit erröten zu lassen, indem ich das Thema ausweite. Ich bin mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste, gehorsame Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Kaiserhammer, den 16. Oktober1755.)