 
		 Meine teuerste Schwester
Dieser Tag ist sehr glücklich, denn er verschafft mir zwei Ihrer teuren Briefe. Der
            erste verkündet mir Ihre Ankunft in Lyon und die Unannehmlichkeiten, welche Sie dort
            hinnehmen mussten. Der zweite beruhigt mich über Ihren Gesundheitszustand. Sie sind
            bei den Jesuiten gewesen, das ist ein sicheres Zeichen, dass Ihre Gesundheit wiederhergestellt
            ist. Ich habe wohl geglaubt, dass Sie in diesem südlichen Teil von Frankreich alles
            voller Antiken vorfänden … Die Römer haben sich dort mehr aufgehalten, als in der
            Umgebung von Paris, das damals noch barbarisch war. Sie lassen mich erzittern, meine
            teure Schwester: dreißig Folio-Bände der „Geschichte von China“! Mein Gott, wer wird
            dies alles wissen können? Ich befürchte sehr, dass diese guten Patres Missionare ganz
            einfach einen Geschichtsroman verfassen, oder zumindest, dass sie uns ebenso aberwitzige
            chinesische Fabeln auftischen, wie jene der Ägypter und der Hebräer. Ich habe mir
            meine Meinung schon im vor hinein gefasst: Es scheint mir, dass unsere „Heiligen Metamorphosen“ Friedrich II. spielt mit seinem Begriff auf Ovids (43 v. Chr.–um 18 n. Chr.) „Metamorphosen“
                  an und rückt die christliche Wesensverwandlung damit ins Heidnisch-Fabulöse. Während
                  des röm.-kath. Konzils von Trient [1545–1563] wird während der Sessio XIII. [11. Okt.
                  1551] im „Dekret über das heiligste Sakrament der Eucharistie“ die Transsubstantiation
                  (Wesensverwandlung) festgeschrieben: „Weil aber Christus, unser Erlöser, sagte, das,
                  was er unter der Gestalt des Brotes darbrachte […], sei wahrhaft sein Leib, deshalb
                  hat in der Kirche Gottes stets die Überzeugung geherrscht, und dieser heilige Konzil
                  erklärt es jetzt von neuem: durch die Konsekration des Brotes und Weines geschieht
                  eine Verwandlung der ganzen Substanz des Brotes in die Substanz des Leibes Christi,
                  unseres Herrn, und der ganzen Substanz des Weines in die Substanz seines Blutes.“
                  Die reformatorische Debatte über die Sakramente (v. a. über die Taufe u. das heilige
                  Abendmahl) löst im 16. Jh. eine Autoritätskrise innerhalb der evangelischen Bewegung
                  aus. Der Konflikt entwickelt sich aus den gegensätzlichen Annahmen von Martin Luther
                  (1483–1546) und Ulrich Zwingli (1484–1531) über das Verhältnis von geistiger und materieller
                  Realität. Den Debattenauftakt markiert Ende 1524 der Druck der Broschüren des Schweizer
                  Theologen u. Reformators Andreas Rudolff Bodenstein, gen. Karlstadt (1486–1541). In
                  diesen wird die körperliche Anwesenheit Christi im Abendmahl abgelehnt. {Cfr.: #424
                  Burnett, 2019: 2 ff.} Die röm.-kath. Kirche hat im März 1547 im Gegenzug damit begonnen,
                  der „Häresie verdächtige Sätze über die Eucharistie zu untersuchen“. {Cfr.: #393
                  Denzinger, 2009: 1632-1661, hier: [Papst] Julius III.: 7. Feb. 1550–23. Mrz. 1555,
                  Kap. 4, 1642, S. 632-640. Wer die Wesensverwandlung leugnete, wurde mit dem Kirchenbann
                  [Anathema] belegt.} {Vertiefend: #394 Jedin, 1982; #395 Das Konzil von Trient,
                  2016.} [GB/reh] vollkommen genügen, und dass alles, was die Chinesen erfinden können, nicht viel
            lächerlicher sein wird. Sie erweisen mir zu viel Ehre, sich meiner in dem schönen
            Land, wo Sie sind, gelegentlich zu erinnern. Und wenn die Franzosen mir Gutes verheißen
            wollen, heißt das vielleicht, dass sie mir für die Rückkehr des Prinzen Karl aus dem
            Elsass Der österreichische Feldmarschall Prinz Karl von Lothringen (1712–1780) war 1744
                  mit 60.000 Soldaten ins Elsass eingedrungen. Da Friedrich II. von Preußen jedoch zwischenzeitlich
                  in Böhmen einmarschiert war (Zweiter Schlesischer Krieg 1744–1745), sah sich Prinz
                  Karl gezwungen, seine österreichischen Truppen aus dem Elsass abzuziehen, um die preußische
                  Armee aus Böhmen zu vertreiben. {Cfr.: #274 Universal-Lexikon, 1844: 265.} {Cfr.:
                  #275 Kugler, 1856: 174.} {Cfr.: #63 Bagatellen, 2011: 120 mit Anm. 3.}
Die Anmerkung
                  Friedrichs II. über die Franzosen, Prinz Karl und das Elsass kann als ironischer Seitenhieb
                  gegen den Bündnispartner Frankreich verstanden werden. Die Franzosen müssten Friedrich
                  II. demnach dankbar sein („einige Erkenntlichkeit bekunden“), da er durch den Einfall
                  seiner preußischen Truppen in Böhmen, die österreichische Armee unter Prinz Karl zum
                  Rückzug aus dem Elsass, das heißt, aus Frankreich bewogen hat. {Siehe auch: #277
                  Zimmermann, 1790: 130f.; #279 Soulavie, 1801, Bd. 3: 288 f.; #276 Kühnemann, 1812:
                  148.} [Möw] einige Erkenntlichkeit bekunden. Haben Sie die Güte, meine teuerste Schwester, einen
            Bruder nicht zu vergessen, dessen Lebensglück aus Ihrer Freundschaft besteht, der
            sich nur für völlig glücklich halten wird, wenn er Sie umarmen und persönlich der
            vollkommenen Zuneigung versichern können wird, mit welcher er für immer ist,
         



