Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Ich hatte beschlossen, Ihnen jeden Tag zu schreiben, solange ich hier sein würde, aber das Schicksal hat es anders vorgesehen. Ich habe wieder eine Kolikattacke bekommen, begleitet von Rheumatismus. Letzterer bleibt mir noch. Ich fange seit heute wieder an, aus dem Bett aufzustehen. Ich hatte an dem Tag, bevor ich krank wurde, das Vergnügen, den Kardinal Tencin und den Marschall de Belle-Isle zu sehen. Hätten Sie doch, mein teurer Bruder, unser Gespräch hören können. Dem Marschall traten aus Zuneigung zu Ihnen vor Rührung Tränen in die Augen. Der Kardinal dagegen hat nur Ihr Lob gesungen. Welch‘ köstliche Augenblicke habe ich doch im Angesicht von zwei Personen verbracht, die Ihnen derartig verbunden sind, und mit denen ich mich über das unterhalten konnte, was mir das Allerteuerste ist. Die Verbundenheit, Euch gegenüber, mein teurer Bruder, hat mich beeinflusst. Es ist unmöglich, mehr Aufmerksamkeiten und Höflichkeiten zu bezeugen, als sie es dabei taten. Der Marschall ist zu meinem großen Bedauern abgereist. Mein Leiden hat mich daran gehindert, mich von ihm zu verabschieden. Der Kardinal ist gestern gekommen, um mich zu sehen. So alt wie er ist, ist er noch immer sehr liebenswürdig, lebhaft und bezaubernd im Gespräch. Er wird mein rettender Halt sein, solange ich hier sein werde, wo im Übrigen die Langeweile herrscht. Ich sehne mich nach einem Wohnsitz; wir sind wie die umherirrenden Juden Wilhelmine spielt hier auf eine verbreitete Legende an. Die Vorstufen des Zerrbildes vom „Ewigen Juden“ gehen bis ins 13. Jh. zurück; somit entspringt die Gestalt aus der christlichen Legendenbildung des Mittelalters. Die Legende erzählt von einem Mann in Jerusalem, der Christus auf dem Gang zur Kreuzigung beleidigte und dafür von ihm zur ewigen Rastlosigkeit verdammt wurde. Dass es sich dabei um einen jüdischen Schuhmacher namens Ahasver gehandelt hat, tauchte erstmals in einem deutschen Volksbuch des Jahres 1602 auf. Im 19. Jahrhundert nahm die Legende dezidiert antisemitische Züge an. {Cfr.: #61 Kurtze Beschreibung, 1602.} {Grundlegend: #62 Ziwes, 1996, Abt. A, Abhandlungen, Bd. 1: 174 mit Anm. I.}, ohne zu wissen, wo uns der Kopf steht, da wir keine Unterkunft finden können, weder in Montpellier noch in Avignon noch in Nîmes. Ich bin hier in einer armseligen Schenke, wo ich beinahe keine Leute empfangen kann, da ich nur ein Zimmer habe. Ich bin einmal im Lustspieltheater Der ehemalige Saal für das «Jeu de Paume» hinter dem Garten des Rathauses, den Wilhelmine besuchte, wurde ab 1722 für Bälle und Komödien, später auch für einige Opernaufführungen genutzt. Der Saal war ein Provisorium, das bis zur Gründung des neuen Theaters, dessen Grundstein im Oktober 1754 gelegt wurde, genutzt wurde. gewesen, die Schauspieltruppe ist sehr gut, vor allem eine Soubrette ist vorzüglich. Laut Tagebuch, {#60 2002: 28}, sah Wilhelmine eine Vorführung von «Démocrite». Wahrscheinlich handelt es sich um «Démocrite amoureux» von Jean-François Regnard (1655–1709). Es gibt ein Kind von 12 Jahren, einen Sohn des Herzogs von Richelieu, der wie ein Engel tanzt. Für sein Alter hat er eine überraschende Kraft in den Beinen, er ist voller Anmut, und [unleserlich ]rundum wie gedrechselt. Er wird mit der Zeit ein zweiter Dupré werden. Der Herzog von Richelieu wird am 15. [November 1754 ]hier sein. Er geht nach Montpellier, um dort die Stände {Siehe auch: #50 Brief vom 19. Oktober 1754 [Anm. 1 in der dt. Übersetzung].} zu versammeln, worüber ich erzürne, weil er uns unsere ganze Reise durcheinander bringt. Ich wünschte, er würde mir Stoff liefern, um Ihnen, mein teurer Bruder, einige Augenblicke die Zeit vertreiben zu können. Aber ich fürchte sehr, dass ich Ihnen nur langweilige Einzelheiten mitzuteilen haben werde. Ich bin mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

Mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste und gehorsamste Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Lyon, den 9. November 1754.)