Perspectivia

(Lyon, den 11. November 1754

Verzeiht, mein lieber Bruder, dass ich Ihnen nicht früher Neuigkeiten berichtet habe. Nachdem ich die Erschöpfung auf der Reise hinreichend gut ausgehalten habe, unterlag ich ihr, als ich hier eintraf, und war gezwungen, 6 Tage das Bett zu hüten. Es ist unmöglich, Ihnen alle Ehrerbietungen zu beschreiben, die man uns erwiesen hat, seitdem wir in Frankreich sind, die Höflichkeiten und Aufmerksamkeiten, die man uns entgegenbringt, sind zahllos. Ich bilde mir darauf überhaupt nichts ein, da sie eher dem König als meinetwegen geschehen. Erweisen Sie mir die Gnade, Monsieur de la Touche einige zuvorkommende Worte über diese Sache zu sagen. Wir haben unendlich viele Menschen gesehen, überall, wo wir durchgereist sind, aber sie zählen nicht zur Elite der Gesellschaft. Ich bin hier seit dem 30.[ Oktober 1754]; ich habe den Marschall de Belle-Isle gesehen, der Kardinal Tencin kommt mich jeden Tag besuchen, und ich gehe oft zu ihm. Das ist ein ehrwürdiger Greis, voller Geist und Lebhaftigkeit. Es ist überdies der Erzbischof von Vienne anwesend. Ich habe alle antiken Stätten dieser Stadt gesehen, und viel von dem, was der Großteil der Fremden, die hier gewesen sind, nicht beachtet hat. Die Stadt ist groß und heiter wegen der beiden Flüsse, die hier durchfließen, vor allem auf der Seite der Saône. Ich habe nichts Schöneres gesehen, als das Flussufer gegenüber der Stadt. Es gibt dort Felsen, bedeckt mit Bäumen, die unterschiedliche einzigartige Formen annehmen. Man sieht die Festung von Pierre Scize und eine Anzahl kleiner Hütten, die ein Amphitheater bilden. Am Abend sind diese Behausungen erleuchtet, was einen einmaligen Anblick hervorbringt. Es ist noch immer so schönes Wetter hier, dass ich ohne Pelz ausgehe und die Fenster in meiner Kutsche heruntergelassen habe.
Wir werden in acht Tagen nach Avignon abreisen, wo wir endlich ein Haus gefunden haben. Wir werden auf dem Wasser übersetzen und rechnen damit, in Vienne, Valence und Nîmes anzuhalten, wo es einige der allerschönsten Altertümer gibt. Ich greife meiner Müdigkeit vor, um Ihnen zu schreiben. Tausend Grüße an Amelie und den teuren Heinrich. Ich kann nicht an alle auf einmal schreiben, da das Haus vom Morgen bis zum Abend nicht leer wird. Mein Herz ist ganz das Ihrige.
W[ilhelmine].)